Ricky

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Published

08.03.2009 17:47

Frankreich (2009) Regie: François Ozon Darsteller: Alexandra Lamy (Katie), Sergi López (Paco), Mélusine Mayance (Lisa), Arthur Peyret (Ricky) Offizielle Homepage

Zu Beginn sieht der Zuschauer in das Gesicht von Katie, einer Frau Mitte 30. Sie sitzt anscheinend einer Beamtin gegenüber und schildert heulend ihre Situation. Sie ist alleinerziehend, hat gerade ihr zweites Kind bekommen und ist überfordert mit Haushalt und Finanzen. Der Vater des Babys hat sie verlassen und das Neugeborene schreit nur, so dass sie es in ein Heim geben will.

Schnitt. Ein paar Monate vorher arbeitet Katie in einer Chemiefabrik und lernt dort Paco lernen und lieben. Er zieht zur ihr und ihrer Tochter Lisa und bald ist ein weiteres Kind unterwegs: Ricky. Doch in der Beziehung läuft nicht alles nach Plan, und als Katie Paco beschuldigt, ihr gemeinsames Kind zu misshandeln, verlässt der Vater Mutter und Kind. So bekommt er gar nicht mit, dass dem Baby plötzlich auf dem Rücken kleine Flügel wachsen und es anfängt, in der Wohnung umherzufliegen…

Ein Baby mit Flügeln. In einem Film von François Ozon, im Wettbewerb der Berlinale. Das musste ich mir ansehen und habe es nicht bereut. Denn wie schon in Swimming Pool verschwimmen hier Realität und Vorstellung zu einer interessanten Mischung aus Unterschichtendrama und Fantasy. Im Mittelteil des Films, wenn Katie und Lisa versuchen, pragmatische Lösungen für die Probleme zu finden, die ein fliegendes Kleinkind nun einmal erzeugt, ist auch sehr viel Humor mit im Spiel. So versucht die Mutter, an Hand von Büchern über Hühnern und gerupften Exemplaren im Supermarkt herauszufinden, ob Rickys Flügel sich gesund entwickeln, und stattet ihren Sohn mit allerlei Schutzvorrichtungen wie Fahrradhelmen aus, um bleibende Schäden bei Abstürzen zu verhindern - Ricky hat nämlich die Angewohnheit, immer ins Licht zu fliegen.

Dabei ist die spannende Frage natürlich, was an dem Film sich wirklich abspielt, und welcher Teil sich nur in der Vorstellung eines Charakters abspielt. Alle Szenen, in den Ricky Flügel besitzt, stehen dabei in einem so starken Kontrast zu der tristen Welt, in der Katie lebt und arbeitet, dass dies wohl der erfundene Teil der Handlung ist. Zuerst dachte ich, dass sich die Tochter eine Traumwelt erschafft, in der ihre Mutter glücklich ist und sie eine richtige Familie bilden; inklusive Vater. Dafür spricht, dass Lisa immer Einfluss auf die Handlung nimmt: Sie schlägt den Namen für ihren Bruder vor, sie wünscht sich einen Flügel, als Paco Hähnchen zum Mittag zubereitet, sie bekommt eine große Puppe aus dem Lottogewinn der die Geldsorgen von Katie vertreibt und in der vorletzten Einstellung, als sich die Kleinfamilie glücklich umarmt, zoomt die Kamera genau auf sie.

Doch dazu passen will weder das Intro auf dem Sozialamt noch die letzte Einstellung des Films, in der Katie schwanger und glücklich auf ihrer Schlafcouch liegt (die logische Reihenfolge der Szenen ist verdreht). Da sie zu Beginn des Films schon Probleme in ihrer Rolle als arbeitende, alleinerziehende Mutter hat, ist es also wahrscheinlich ihre Vorstellung einer glücklichen Familie, die sie sich nach dem Toiletten-Quickie mit Paco auf der Couch erträumt - ohne dass sich diese jedoch erfüllt.

Sie will eine gute Mutter für die Tochter sein, schafft es aber nicht. Und da Paco nicht die Rolle des unterstützenden Vaters einnimmt (besonderes Merkmal: animalische Behaarung) und Ricky mehr Probleme verursacht, als hilft, die Mutter-Tochter-Beziehung zu kitten, kommt es schließlich zu der ersten Szene im Sozialamt und vielleicht sogar einem Selbstmordversuch - jedenfalls schließt dieser den fantastischen Teil ab, und nur das letzte Auftauchen von Ricky, frei wie ein Vogel, verhindert den Suizid.

Die Grenzen zwischen realer und erträumter Handlung sind also fließend und beide beeinflussen sich gegenseitig, doch hinter dem fantastischen Teil können sich die sozialen Probleme nur verstecken, selbst wenn Ozon die hässlichen Seiten an Katies Leben komplett am Anfang des Films platziert, so dass sie hinter der heilen Fassade der dank Ricky glücklichen Familie aus dem Gedächtnis driften. Wenn man richtig hinsieht, erkennt man die Probleme jedoch weiterhin, denn sie bilden immer noch den Rahmen der Handlung und das Setting des Films: Die heruntergekommenen Blöcke der Sozialwohnungen, außerhalb der Stadt isoliert; die Ausnutzung der Bewohner in Fabriken. François Ozon zeigt diese Welt komplett ohne Makeup, er beschönigt nichts. Seinen Darsteller in ihren billigen Klamotten wird so alles abgefordert, um die fantastische Geschichte überhaupt funktionieren zu lassen.

Nicht sofort wiedererkannt habe ich dabei den Schauspieler Sergi López in der Rolle des Paco. In Pans Labyrinth war er noch der eiskalte Franco-Hauptmann Vidal, doch er überzeugt ebenso als Fabrikarbeiter aus der französischen Unterschicht und unterstreicht damit seine Wandlungsfähigkeit. Nomen ist dabei wie immer omen, denn sowohl Paco (Verniedlichung von Francisco, steht aber auch für Himmelsgott) als auch Katie (die Reine), Lisa und Ricky sind Namen, die mit den unteren sozialen Schichten assoziiert werden, wodurch es für Kinder mit solchen Name taurigerweise schwer werden wird, daraus auszubrechen. Katie, so zeigt der Film, ist dieser Versuch kläglich misslungen.

Fazit: Fantasy und Sozialdrama in einem Film, das schafft nur François Ozon. Wie schon bei Swimming Pool besteht der Reiz darin herauszufinden, wo die reale und die geträumte Handlung ineinander übergehen und inwieweit Elemente der Einen sich in der erfundenen Geschichte widerspiegeln. Doch nur wenn man alle Szenen hinterfragt, funktioniert der Film auch, ansonsten passen die drei Teile (insbesondere das surreale Ende um den Suizidversuch) nur schwer zusammen. Ein wenig Spaß am Puzzlen sollte man also mitbringen, damit Ricky einem gefällt.