Corpus Delicti
von Juli Zeh, erschienen bei Schöffling & Co, ISBN 978-3-89561-434-7, 19,90€
An meiner Badezimmertür ist ein Aufkleber angebracht:
Aus hygienischen Gründen wird diese Toilette videoüberwacht.
Dieser Aufkleber spielt ironisch mit dem aktuellen Trend, alles und jeden in dieser Gesellschaft zu überwachen. Dabei ist das Argument für eine Überwachung, die Hygiene, ein durchaus löbliches und von den meisten Menschen unterstütztes Ziel. Doch muss man für die Sicherstellung dieses Zieles unbedingt einen der intimsten Bereiche des privaten Lebens per Video überwachen, oder gibt es da nicht vielleicht noch andere Wege als jeden Bürger erst einmal die Schuld zu unterstellen?
Juli Zeh beschreibt in ihrem Buch Corpus Delicti eine zukünftige Gesellschaft, in der Hygiene zum Ziel und Zweck eines autoritären Staates erklärt wurde. Dies bedeutet, dass sich alle Bürger der Gesundheitsidee (genannt Methode) unterordnen müssen und der Staat dies überwacht: Jeder Mensch muss eine bestimmte Menge Sport treiben, darf sich keinen Schadstoffen (wie z.B. Alkohol oder Tabak) aussetzen und hat Protokoll über die Einhaltung der staatlichen Standards zu führen.
Der Bruder der Hauptakteurin Mia Holl hatte jedoch anderes im Sinn. Er treibt sich gern in der freien, aber unreinen und nicht sterilen Natur herum, raucht ab und zu eine Zigarette und wird deshalb als Methodenfeind in ein Gefängnis gesteckt, wo er lieber Suizid verübt als seine Freiheit aufzugeben. Nun steht seine Schwester, als Biologin eine rational denkende Anhängerin der Methode, vor der schweren Glaubensfrage, ob ein Staat seinem Bürger nicht gewisse Freiheiten zugestehen kann, ohne ihn gleich als Terrorist und Staatsfeind anzusehen. Doch allein diese Überlegungen bringen Mia ihrerseits ins Visier des Methodenschutzes, einer Art Geheimpolizei des totalitären Gesundheitsstaates…
Dystopie wird die pessimistische Version der Science-Fiction genannt, wie sie die Autorin hier vor dem Leser ausbreitet. Ähnlich Orwells 1984 hat sich ein staatliches System durchgesetzt, dass seine Bürger in ein enges Korsett der Kontrolle zwängt und die scheinbar vollkommene Gleichheit als Ziel und Maßnahme gleichzeitig ansieht. Der Titel des Buches ist dabei ein Wortspiel über den zentralen Gerichtsprozess: Mia Holl ist Angeklagte und Tatwaffe zugleich; das Verbrechen hat sie ihrem Körper angetan, nämlich ihn nach eigenem Denken zu behandeln und nicht die verordnete Eigenhygiene einzuhalten. Der eigene Körper fremdbestimmt und nicht mehr Eigentum des darin herrschenden Geistes - mehr Diktatur gibt es nicht.
Doch in jeder Diktatur gibt es Menschen, die sind gleicher als die anderen. Dies ergibt sich automatisch aus der verlockenden Konzentration der Macht und den Ungerechtigkeiten im Rechtssystem. Vordergründig gibt es auch in Corpus Delicti die dritte Gewalt mit Richtern, Staatsanwälten, Verteidigern und Beweisstücken (inklusive Kritik an der Beweiskraft des genetischen Fingerabdrucks). Doch Juli Zeh verwendet nicht umsonst andere Vokabeln für diese Rollen, deren Machtlosigkeit und beliebige Austauschbarkeit die Täuschung offenbaren und zeigt auf, dass andere Personen an den Schalthebeln sitzen und die Spielregeln nach eigenem Ermessen aufstellen.
Der Staat hat also Mittel an die Hand bekommen, seinen Selbsterhalt gegenüber jeden scheinbaren Widerstand durchzusetzen, und nutzt diese ausgiebig. Dabei wird aber auch deutlich, dass die Legitmation des beschriebenen Staates, die Gesundheit aller Bürger sicherzustellen, zum einen seine Schattenseiten in der Sterilität aufzeigt (getrunken wird nur noch Wasser) und gleichzeitig dadurch das Ziel verfehlt: Den Menschen fehlt durch die vollkommene Abschottung gegenüber allen Giftstoffen ein funktionierendes Immunsystem.
Die Autorin verpackt diesen Rundumschlag gegen den Überwachungsstaat in kurze Kapitel, die aus der Sicht von Mia Holl erzählt werden. Diese sind teilweise in einem sehr poetischen Stil gehalten, wobei sich Mias Ansichten von einem sehr wissenschaftlichen Blickwinkel hin zu einem emotionalen Rundumschlags in Form eines Manifestes pro Freiheit und contra Methode entwickeln. Ab da wird jede Analogie zu einem Gerichtsroman abgeschüttelt, es kommt zu Folterungen und der Staat zeigt sein eigentliches Gesicht und lässt am Ende den Leser ohne jeden Funken Optimismus zurück. Dieses Ende ohne Hoffnung zeigt überdeutlich die Intention des Romans als Abschreckung, so einen Staat niemals zuzulassen.