Boxhagener Platz

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Published

27.02.2010 23:46

Berlinale-Filmdatenblatt / Offizielle Homepage

Holger ist zwölf Jahre alt und wächst in den 1960er Jahren am Boxhagener Platz in Ost-Berlin auf. Die Ehe seiner Eltern ist zerrüttet, denn der Vater möchte seine stotternde Karriere als ABV in der Volkspolizei durch Staatstreue ankurbeln, während die unbefriedigte Mutter mit einer Flucht in den Westen liebäugelt. Holgers wichtigste Bezugsperon ist daher seine Oma Otti, bei der er jeden Tag zu Mittag isst und die er immer auf den Friedhof begleitet. Otti hat schon fünf Ehemänner überlebt und deren Gräber gilt es zu pflegen, doch während der aktuelle Gatte Rudi noch vor sich hinsiecht, haben schon zwei andere ein Auge auf sie geworfen: Der Fischhändler Winkler und der ehemalige Spartakuskämpfer und Witwer Karl.

Da wird der Fisch-Winkler eines Nachts ermordert; eine Bierflasche hat ihn am Kopf getroffen. Holgers Vater sieht für sich die große Chance gekommen, mit einer erfolgreichen Ermittlung bei den Chefs zu punkten. Doch sein Sohn, durch Omi Otti bei allen Anwohnern des Boxhagener Platzes bekannt, weiß mehr. Zum Beispiel, was es mit dem Bekennerbrief einer Westberliner Studentenkommune auf sich hat und den Flublättern, die über den Platz abgeworfen wurden…

Boxhagener Platz präsentiert dem Zuschauer eine thematisch interessante Mischung. Auf der einen Seite ist es ein Heimatfilm über Berlin und seine Einwohner. Es wird berlinert, dass es eine Freude ist, es riecht nach Kiezluft und der typischen Berliner Eckkneipe. Der Boxhagener Platz mit seinen Anwohnern ist nicht nur Zentrum der Handlung, sondern gleichzeitig die Grenze; fast alles spielt sich im Kiezmilieu ab und so wird ein ganzes Volk auf Straßengröße komprimiert.

Denn gleichzeitig ist Boxhagener Platz ein politischer Film. Er ruft eine Zeit in Erinnerung, als sich die DDR gerade als gefestigt ansah, doch immer noch eine Menge Probleme aus der Vergangenheit mit sich herumschleppte. Da gibt es Ex-Nazis wie den Fisch-Winkler, die es sich im praktizierten Sozialismus bequem gemacht haben, und zukünftige Rechte wie Holgers Kumpel, deren Ansichten sich unter dem Deckmantel der Gemeinschaft ungestört entwickeln können. Aber ebenso gibt es die Linken wie Karl, die einst für die Revolution auf der Straße gekämpft haben und von der Entwicklung ihres erhofften Staates enttäuscht sind. Gerade in Berlin, wo der Westen immer knapp in Reichweite vor der eigenen Nase lag, konnten die Bürger immer den Vergleich ziehen, der wie im Fall des Weihnachtsbaumes im Films durchaus zwiespältig ausfallen konnte.

Eine interessante Rolle spielt dabei Omi Otti. Sie ist eher praktisch veranlagt und spricht mit ihrer typischen Berliner Schnauze auch gerne aus, was sie über die Poltik denkt. Dennoch ist sie nicht politisiert und verkörpert damit die tragende, breite Mitte des deutschen Volkes, auf dessen Schultern die DDR mitgetragen wurde. Dass dann ausgerechnet ein Mordfall im Kiez das ganze Dilemma des Staates und seiner Bürger offenlegt, ist sinnbildlich für diese Betrachtung des Sozialismus unter der Lupe des Autoren der Buchvorlage, der auch das Drehbuch verfasst hat.

Überrascht hat mich, dass meine Heimatstadt Halle zwei kurze Auftritte hat (das Polizeipräsidium, der Friserusalon) und damit ihren etwas seltsamen Ruf als DDR-Kulissen-Stadt bestätigt. Das Berlin von heute hat im Gegensatz dazu sein Antlitz so stark gewandelt, dass man am titelgebenden Boxhagener Platz einfach nicht drehen konnte. Die gewählte Studiostraße hat mit dem Original aber nicht viel gemein. Die Straße ist zu breit, der Platz selber nie zu sehen und auch die immer noch existierende Kneipe Feuermelder (inzwischen ein beliebter Kickertreff) hält einem Vergleich mit den realen Örtlichkeiten nicht stand. Für mich als Friedrichshainer ist das natürlich enttäuschend und kratzt etwas an dem ansonsten gut eingefangenen Berliner Charme.

Generell schwanken Kulissen und Ausstattung zwischen verliebter Detailtreue und Anachronismen. Die Wohnung von Oma Otti erinnerte mich an die Wohnungen meiner Omas; die für die DDR typischen Schule, Polizeirevier und Friseursalon habe ich selber noch so erlebt. Die falschen Wartburg-Modelle bei einem Polizeieinsatz und durch Ost-Berliner Straßen fahrende Westbusse stören jedoch den ansonsten guten Eindruck. Bei einem Kameraschwenk auf den Friedhof sind gar Plattenbauhochhäuser zu sehen, die es nie in Friedrichshain gab und 1968 noch gar nicht von der DDR gebaut wurden.

Etwas blass bleibt ausgerechnet die Hauptrolle von Holger, gespielt von Samuel Schneider. Zu wenige Dialoge wurden ihm gegönnt und der Zuschauer sieht ihn hauptsächlich als den dabeistehenden Junge; Erzählen dürfen immer nur die anderen. Das gegenseitige Interesse von Karl und Holger an einander bleibt so ziemlich unklar, ebenso Holgers politische Initiation. Das Buch führt das Leben und die Entwicklung des Jungen deutlich breiter aus und macht sie so verständlicher.

Dafür überzeugen die beiden Schauspiel-Rentner Gudrun Ritter und Michael Gwisdek und das Elternpaar Meret Becker und Jürgen Vogel. In ihnen spiegelt sich das Kiezleben, und gerade Otti in ihrer praktischen Art trägt den lakonischen, teilweise schwarzen Humor, der den gesamten Film durchzieht und so liebenswürdig macht. Und deshalb kann ich Boxhagener Platz allen Berlin-Fans empfehlen und denjenigen, die einen ironischen Blick auf diese Phase der DDR werfen wollen.