Explore everything
von Bradley L. Garrett, erschienen bei Verso, ISBN 978-1781681299, 21,95€
Urban Exploration oder Place Hacking, wie es der Autor auch nennt, ist das Entdecken der versteckten oder schwer zugänglichen Ecken einer Stadt. Die Spannweite reicht dabei von verfallenen Ruinen, aufgegebenen Industriebauten über Baustellen bis hin zu Infrastruktur wie U-Bahntunnel, Versorgungsnetzen und Abwassersystemen. Gerne werden dabei auch Fotos als eine Art Trophäe geschossen. Bradley Garrett war jahrelang Mitglied einer Gruppe von Explorern. Anfangs galt sein Interesse noch hauptsächlich dem Sammeln von Informationen für seine Doktorarbeit, doch er wurde schnell von der Szene aufgesogen und schließlich vom wissenschaftlichen Beobachter zum aktiven Explorer.
In diesem Buch beschreibt er diesen Prozess, wenn auch unterschwellig. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem Aufstieg und Fall der UE-Gruppe LCC und der Legitimation des eigenen Vorgehens. In teilweise sehr bildhafter Sprache und vielen Zitaten wird Urban Exploration glorifiziert und ein politischer Subtext suggeriert. Ein wenig liest sich dies wie eine Verteidigungsschrift, wobei die Inhaftierung des Autoren Ursache dieses Stil sein mag.
Anfangs versucht er noch, die Motivation der Urban Explorers relativ wertfrei zu analysieren. So kommt er zum Schluss, dass es weniger eine Gemeinschaft als eine lose Gruppe von Menschen mit sehr individuellen Hintergründen und Motivationen ist.
Doch dann folgt der Schwenk hin zu der Interpretation, dass Placehacker gegen die reglementierte Spaßgesellschaft aufbegehren, die Unterhaltung als Ziel ausgegeben hat, allerdings nur an sicheren und vorkonfektionierten Orten. Die Place Hacker entziehen sich diesen gesteckten Grenzen in dem egoistischen Ziel, ihren Individualismus nicht von anderen einschränken zu lassen. Dabei stecken sie trotzdem noch mitten drin in der neoliberalen Weltanschauung, die maximale Individualität zum Ideal erkoren hat. Die vorgebliche Kritik am herrschenden System ist also keine, sondern vielmehr die Überwindung einer der wenigen übrig gebliebenen sozialen Aspekte der Gesellschaft, nämlich der gemeinschaftlichen Einigung auf bestimmte Regeln. Was sie den Zäunen und Mauern vorwerfen, nämlich die Begrenzung des öffentlichen Raums durch wenige, ist gleichzeitig ihr eigener Antrieb, nur dass sie eben eine andere Meinung über die Beschaffenheit und den Zweck der Grenzen haben.
Interessanterweise wollen sie subversiv ohne Gruppenwirkung sein, doch die Zerschlagung der LCC hat gezeigt, dass sie die Gruppe für das Erreichen ihrer Grenzüberschreitungen brauchen. Und die Community hatte auch einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Gruppe und ihrer Ziele. Das, was der Autor Grenzerweiterung nennt, der ihnen innewohnende Antrieb, hat nicht viel zu bedeuten ohne ein Publikum. Gleichzeitig waren sie ein Vorbild, dem viele folgten. Die allgegenwärtigen Heroshots, Fotografien in den gehackten Places als Beweis für das erreichte, sind ein deutliches Zeichen dieser indirekten Interaktion.
Im zweiten Kapitel habe ich mich zum ersten Mal wiedergefunden, konnte ich die Motivation des Autors nachvollziehen. Denn hier zieht er den Vergleich zu Archäologen, denen es aus seiner Sicht um die Deutungshoheit über historische Plätze geht. Den Place Hackern dagegen ist die historische Bedeutung meist egal, ihnen geht es um den Eindruck der Situation, zu denen auch das Hacken selber gehört. Mir geht es ganz ähnlich, wenn ich auf Türme steige. Ich möchte die Welt von oben sehen, möchte Städte als gesamtes wahrnehmen und nicht nur in Straßenschluchten stehend. Ob ich dazu auf jahrhunderte alte Kirchtürme oder Wolkenkratzer steige, ist mir in diesem Kontext egal bzw nur Mittel zum Zweck.
Eine bessere, pluralere Gesellschaft würde Urban Explorer nicht nur als Störer brandmarken. Aber - das zeigt das Buch deutlich - unsere Gesellschaft ist nicht so weit, diese Subkultur zu akzeptieren - und wenn dann nur in der für alle sicheren Form des Mediums Buch.