Babel, Or the Necessity of Violence - An Arcane History of the Oxford Translators’ Revolution
von Rebecca F. Kuang, erschienen bei HarperVoyager, ISBN 9780008501815, 16,99€
Bis ca Seite 100 dachte ich, ich hätte das Buch verstanden. Es sah alles nach dem Schema John Grisham aus, welches er in Die Firma so perfektioniert hatte: Ein Hochbegabter aus einfachen Verhältnissen erhält dank seiner Begabung die Chance, in die höchsten Etagen seiner Zunft aufzusteigen. Doch dann muss er erfahren, wie es hinter den Kulissen aussieht, und wird schließlich zum Spitzel, um gegen das verbrecherische System zu arbeiten.
Ab da war meine Motivation weiterzulesen merklich gedämpft, doch zumindest lag ich falsch. Das Buch ändert auf den folgenden vierhundert Seiten noch mehrmals seinen Stil, schält dabei aber immer deutlicher seine Themen hervor, die ich zuvor als plakativen Subtext missverstanden hatte (und im Nachhinein muss ich gestehen, dass der Buchtitel die Aussage eigentlich vorwegnimmt).
Es fängt an mit der Kritik an Kolonialismus, Kulturimperialismus und den Umgang mit Einwanderern, steigert sich dann aber zum Rundumschlag gegen das vorherrschende kapitalistische System: Monopole; die vielen kleinen Rädchen mit begrenztem Einfluss, die im Zusammenspiel aber eine gewaltige Wirkung erzielen; Oligarchen, die den Kurs der Regierung jenseits jeglicher Ethik bestimmen (und damit auch über Krieg und Frieden), Ausbeutung der Arbeiterklasse, Massenentlassungen und (sehr idealisiert und solidarisch) Organisation von Streiks dagegen.
Dabei ist die Kritik immer überaus eindeutig und die Rollen von Gut und Böse sind klar verteilt. Das Buch handelt sich ausschließlich an den Optionen ab, wie das System zu ändern ist und was dafür erlaubt ist. In Zeiten der Letzten Generation ein tagesaktueller Diskurs.
Das fantastische Setting und das gelungene Worldbuilding geraten dabei leider weitesgehend in den Hintergrund. Dabei mochte ich genau das am meisten an dem Buch: Die Beschreibung des anbrechenden Viktorianischen Zeitalters und die Integration des fantastischen Elements des Silver-Workings als Analogie für die industrielle Revolution. Dies ist sehr gelungen und rund, auch was den historischen Kontext angeht und die Integration in den sich anbahnenden Opiumkrieg mit China.
Traduttore, traditore: An act of translation is always an act of betrayal.
Dieses Zitat ist im Buchumschlag angegeben und beschreibt sehr schön, wie das Buch den eigentlich nur künstlerischen “Verrat” auf die physische Ebene hebt: Die Unterschiede in anderen Sprachen werden ausgebeutet und mittels des Silver-Workings quasi in Stein bzw Metall gemeißelt, was zu weiterer - diesmal deutlich realerer, greifbarer - Ausbeutung führt.
Ebenso machte es mir Spaß zu lesen, wie die Autorin (vermutlich) ihre eigene Zeit an der Oxford University durch die Augen der vier Studenten 200 Jahre vorher verarbeitet und immer wieder in Fußnoten unterhaltsame Beispiele für die bunte Historie von Alltagswörtern liefert.
Doch irgendwann muss das Buch leider in Richtung Necessity of Violence und Oxford Translators’ Revolution abbiegen, und ab da wird es richtig wild. War die Geheimorganisation Hermes vorher schon nicht sonderlich glaubhaft, wird es jetzt richtig abstrus und es müssen einige Figuren sterben und einige Handlungswendungen überstanden werden, bis aus vier Studenten am Institut für Übersetzung zwei Besetzer des titelgebenden Turms Babel werden, die die Welt aus den Angeln heben wollen und damit auch dem Buch den Zauber seiner Fantastik nehmen werden.
Am Ende möchte ich noch kurz ein paar Worte zum Buchsatz verlieren. Ich habe mich aufgrund des schöneren Covers für UK-Edition des Buches entschieden. Leider nervt diese aber mit Sternchen für die Fußnoten, die im Fließtext nicht von Anführungszeichen zu unterscheiden sind. So habe ich bei fast jeder Fußnote suchen müssen, zu welcher Textstelle sie gehört. Ich kann mich nicht erinnern, so etwas schon einmal erlebt zu haben. Ich hoffe, das wird in zukünftigen Auflagen korrigiert.