Der Junge und der Reiher

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Published

05.01.2024 23:55

Der zwölfjährige Mahito hat während des zweiten Weltkriegs seine Mutter in einem Feuerinferno verloren. Ein Jahr später zieht er mit seinem Vater auf den Landsitz der Mutter, wo deren jüngere Schwester ein Kind vom Vater erwartet und sich Mahito als seine neue Mutter vorstellt. Die Eingliederung in die neue Schule gelingt alles andere als reibungslos und als sich der Junge dann auch noch selbst mit einem Stein am Kopf verletzt, muss er mit Fieber und wirr träumend das Bett hüten.

2003 sah ich meinen ersten Ghibli im Kino, nun hatte ich überaschend die Chance, auch meiner Tochter eine der Wunderwelten Hayao Miyazakis auf der großen Leinwand zu zeigen. Denn eigentlich ist der inzwischen 82jährige seit zehn Jahren im Ruhestand - zu unser aller Glück hat ihn das aber nicht davon abgehalten, einen weiteren Film zu realisieren, der im Gegensatz zu seinen Vorwerken deutlich sperriger ist in Hinblick auf die Verständlichkeit.

Denn hinter dem Landsitz gibt es einen seltsamen Turm, über den sich die Bediensteten Schauermärchen erzählen. Den Großonkel seiner Mutter soll er um den Verstand gebracht haben, bevor dieser komplett verschwand. Und ein seltsamer Reiher nähert sich immer wieder Mahito und versucht, ihn zum Turm zu ziehen. Als dann noch seine Tante hochschwanger in der Nähe des Turms verschwindet, beschließt der Junge, dem Mysterium auf den Grund zu gehen und landet in einer Parallelwelt, die vom Großonkel erschaffen und gelenkt wird. Dort gelten andere Regeln als in unserer Welt, und so trifft der Junge nicht nur einen Zwerg, der in dem Reiher lebt, sondern auch seine Mutter als junge Feuerhexe, eine 60 Jahre jüngere Version der Hausdame Kiriko und eine ganze weitere Reihe von Merkwürdigkeiten.

Die Interpretation dieser fantastischen Reise, die in ihrem Fluss an verrückten Szenen etwas an Alice im Wunderland erinnert (fachistische Kanarienvögel, wtf), nimmt fast schon Züge von David-Lynch-Filmen an. Fast alles, was die erste Hälfte des Films an für einen zwölfjährigen Jungen schwer verkraftbaren Umständen zeigt, wird auf die eine oder andere Art in der Parallelwelt verarbeitet. Viele Themen, die im Kopf des Jungen umherschwirren müssen, finden dort eine greifbare Form: Wie passen die seltsamen Geschichten um den Turm zusammen? Ist die Mutter wirklich tot, wo er doch niemals eine Leiche gesehen hat und zu gerne daran glauben möchte, dass sie in Wirklichkeit noch lebt. Was lässt die Soldaten so jubelnd in den Krieg ziehen; wie kann der in Aussicht stehende Tod sie anziehen?

Und immer wieder ist es der Stein, der für die Ambivalenzen steht, die ihn beschäftigen: Kann er seine Tante als neue Mutter akzeptieren oder ist das ein Verrat an seiner toten, leiblichen Mutter? Ist es OK, sich selber zu verletzen, um der kritischen Situation mit den Mitschülern zu entgehen? Und ist es überhaupt statthaft, in schweren Kriegszeiten eigene Bedürfnisse zu haben? Der Reiher wird zum Sinnbild dieses Zwiespaltes; er darf die unterdrückten Seiten und inneren Konflikte des Jungen ausleben, undankbar sein und hinterhältig, aus der Fassade der Wohlerzogenheit ausbrechen.

Damit erklärt sich auch der Originaltitel des Films (übersetzt etwa “Wie willst Du leben?”), der sich auf ein japanisches Buch für Heranwachsende bezieht, welches Mahito von seiner Mutter hinterlassen wurde. Als Zuschauer beobachten wir den Jungen auf seiner Selbstfindung, nachdem in seiner bisherigen Kindheit andere für ihn die Entscheidungen trafen. Nun darf und muss er wählen: Folgt er dem Weg seiner Vorfahren, den reichen Industriellen, die auch gerne vom Krieg profitieren und sich von den Faschisten hofieren lassen - oder will er eine andere, vielleicht bessere Welt und lässt die alte dafür untergehen?