Die Fanmeile als Gefahr
Es ist mal wieder mal wieder ein großes Fußballturnier in Deutschland und es ist mal wieder Wahlkampf, was in Kombination seltsame Blüten treibt. Am weitesten aus dem Fenster lehnt sich Jens Spahn in einem Interview, das der Tagesspiegel wie folgt zusammenfasst:
„Es nervt die Leute. Und es macht die Stimmung nicht besser in einer Zeit, in denen eh schon alle gereizt sind», sagte Spahn der Düsseldorfer „Rheinischen Post“. „Die Fanmeile gefährdet die Arbeitsfähigkeit des Parlaments.“ Staus dieser Art könnten „auch nicht zu Wirtschaftswachstum führen“. Der Berliner Senat müsse künftig für solche Veranstaltungen einen anderen Ort wählen: „Und im Übrigen bin ich der Meinung, dass Großveranstaltungen in Berlin auf dem Tempelhofer Feld stattfinden sollten.“
Nun könnte man das als ein typisches NIMBY abtun, denn Spahn hat gleich einen Vorschlag für einen alternativen Standort parat, der nicht den eigenen Arbeitsweg beeinflusst. Doch in der inzwischen in der Politik leider üblichen populistischen Art des Einsatzes von Auslassungen und der bewussten Verdrehung der Fakten - präsentiert als eigene Meinung - schwingt auch ein Subtext mit, der mich als Bewohner von Berlin auf die Palme bringt.
Schauen wir uns die Aussagen also einmal in Detail an. Spahn moniert die Staus durch die Fanmeile, die aus seiner Sicht die Arbeitsfähigkeit des Parlaments beeinflussen. Vermutlich geht es ihm hauptsächlich um die Länge der Sperrung, denn fast drei Monate am Stück sind selbst für die notorisch oft gesperrte Straße des 17. Juni (ca 100 Tage im Jahr) ganz schön lang. Doch müssen die Abgeordneten eigentlich per Auto zu ihrem Arbeitsplatz kommen, wo der Bundestag doch so gut mit S- und U-Bahn angebunden ist?
Und ist diese Straße wirklich so wichtig für das “Wirtschaftswachstum”? Braucht es weniger Staus im Zentrum von Berlin, damit die Wirtschaft floriert? Tatsächlich scheinen die EM und die von der UEFA aufgedrückten Auflagen wie die Fanfeste ein Nullsummenspiel für die Städte zu sein. Aber Spahn versucht sich hier an der simplifizierenden Implikation, dass die Wirtschaft nur wächst, wenn der automobile Verkehr mitten durch die City fließt.
Ich denke alle Berliner können sich ausmalen wie es aussieht, wenn alle Arbeitnehmer und Anlieger des Berliner Zentrums mit dem Auto anreisen. Deshalb ist das gute Nahverkehrsnetz eigentlich ein wichtiger Eckpfeiler im Verkehrssystem der Hauptstadt - eigentlich, denn gerade diese Woche hat die Ukraine-Konferenz dafür gesorgt, dass ausgerechnet die beiden wichtigen vom Straßenverkehr entkoppelten Achsen Stadtbahn und Nordsüd-Bahn während des Berufsverkehrs massiv eingeschränkt waren.
Was bei mir die Frage aufwirft: Was ist schlimmer für die Wirtschaft? Wenn die fast anderthalb Millionen Arbeitnehmer, die täglich die S-Bahn nutzen, nicht auf Arbeit kommen, oder wenn 33.500 Autos sich einen anderen Weg suchen müssen, wie an vielen anderen Tagen im Jahr auch?
Ich unterstelle Jens Spahn also, dass er es im Wahlkampf auf die Wähler abgesehen hat, die ihre persönliche Freiheit dort gefährdet sehen, wo sie nicht mit dem Auto bis vor die Tür fahren können.
Und leider scheint das ein weit verbreiteter Gedanke in der Regierung und im Bundestag zu sein. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass erprobte Wege bei Staatsbesuchen, die nicht die Berliner S-Bahn massiv stören, nicht angewendet werden. Und dass die für Berlin wichtige zweite Nordsüd-Achse seit Jahren durch den Bundestag blockiert wird.
Es scheint also noch eine Menge Überzeugungsarbeit zu benötigen, bis alle verstanden haben, dass eine autogerechte Stadt Grenzen hat. Ich habe die Hoffnung aber noch nicht aufgegeben, dass zu meinen Lebzeiten die überall in Europas Großstädten voranschreitende Verkehrswende auch in Berlin ankommt.