Antichristie
von Mithu Sanyal
Oh man. Ich habe mich extrem schwer getan mit Antichristie. Fünf Monate und drei Anläufe habe ich gebraucht, weil mir einfach die Motivation und das Interesse fehlte herauszufinden, wie die Handlung weitergeht. Dabei gab es gleichzeitig so viele Aspekte am Buch, die mir gefallen haben. An erster Stelle ist das der englisch geprägte Humor, der zusammen mit den vielen popkulturellen Anspielungen die eigentlich ernste Handlung immer wieder ironisch bricht.
Das Buch beginnt mit der Beerdigung der Mutter der Erzählerin Durga. Obwohl Durga keine innige Beziehung zu ihrer Mutter hatte, seit diese die Familie verließ, hat sie doch mit der Situation zu kämpfen. Von einem Writers Workshop in London erhofft sie sich Ablenkung und Zerstreuung. Doch beim Schlendern durch die Stadt findet sie sich plötzlich im Jahr 1906 wieder, im Körper des jungen indischen Einwanderers Sanjeev, der im India House mit Schlüsselfiguren der indischen Unabhängigkeitsbewegung verkehrt.
Und da sind wir auch schon beim Zentrum dieses Buchkonstruktes: Indien ist ein unterdrückter Teil des britischen Empires, doch mitten im Zentrum des Empires werden die Grundlagen für die spätere Unabhängigkeit gelegt, wird der richtige Weg für den Kampf gegen die Kolonialmacht ausdiskutiert. Dabei ist Ghandi nur eine Randfigur; Mithu Sanyal hat mit Vinayak Savarkar einen weitaus ambivalenteren Charakter in den Fokus gestellt. Dieser will die Unabhängigkeit weniger friedlich erkämpfen, steckt hinter Bombenanschlägen und Attentaten und wird von den Briten dafür lange inhaftiert werden. Während der Gefangenschaft wird er dann die Leitschrift für einen Hindu-Nationalismus schreiben, die bis heute die indische Politik beeinflusst.
Doch Mithu Sanyal schaut nur auf ein paar Jahre Savarkars in London und beschreibt einen eloquenten charismatischen Mann, dessen Zukunft noch nicht geschrieben ist. Immer wieder fragt sich Sanjeev mit dem heutigen Wissen, wie aus dem 1906er Savarkar der spätere “Hindu-Hitler” wurde. Das ist alles fantastisch recherchiert und strotzt vor Details, aber mir fehlte es an einem Handlungsbogen; an einem Ziel, auf das die Geschichte hinarbeitet.
Dass die Thematik für einen Roman etwas trocken ist, hat vermutlich auch die Autorin gespürt und ihn deshalb mit der Diskussion um die Werke Agatha Christies angereichert. Diese lebte und wirkte bekanntlich zu Zeiten des Empires und so ist es wenig verwunderlich, dass sich koloniale Ansichten und Topos in ihren Büchern wiederfinden. Die teilweisen extremen Ansichten um den Umgang damit spitzt Mithu Sanyal zu, indem sie ihre Hauptfigur Durga an einem Drehbuch-Seminar teilnehmen lässt, das Hercule Poirot in die Gegenwart holen und von all dem kolonialen Ballast befreien soll. Und als wäre das noch nicht genug, tritt in der 1906er Zeitlinie auch noch Sherlock Holmes auf und hilft Sanjeev, einen Mordfall im India House aufzuklären. Dabei ist natürlich auch er ein Kind seiner Zeit mit rassistischen Ansichten und Vorurteilen und wird ähnlich wie in der BBC-Serie etwas von seinem Thron geholt.
Garniert wird das Ganze mit Zitaten aus Doctor WHO und einer (dankeswerterweise im Anhang erklärten) Kapitelstruktur, die sich an das Protokoll nach dem Tod der Queen anlehnt. Ganz schön viel also für einen einzigen Roman. Ich persönlich hätte mir mehr Sherlock Holmes in der Savarkar-Zeitlinie gewünscht, dafür weniger Sprünge in die Gegenwart. So nehme ich viel neues Wissen über die jüngere Geschichte des indischen Subkontinents mit und weiß nicht so recht, ob ich das Buch weiterempfehlen kann.