Urlaubslektüre
Barbi Marković - Minihorror
Was wäre, wenn alle Vorstellungen, die man sich von möglichen Unfällen macht, Realität werden? Wenn all die seltsamen Bräuche, mit denen man aufgewachsen ist, eigentlich einen schrecklichen Hintergrund haben? Barbi Marković treibt dieses Spiel mit dem Horror in 28 teils ultrakurzen Geschichten auf die Spitze: Vom Man-eater bis zum Kitzelmonster nimmt sie bewusst alles wörtlich, was eigentlich nur ein geflügeltes Wort ist.
Die Helden Opfer des Büchleins heißen Miki und Mini. Im Anhang finden sich Illustrationen welche zeigen, dass die beiden den Comicvorbildern von Disney angelehnt sind, was aber vor allem die diesem Genre übliche Überzeichnung betont. Mini ist dabei das leicht autobiografische Alter Ego der Autorin, welches mit ihrem Migrationshintergrund von Serbien nach Österreich einen interessanten Culture-Clash-Blick auf hiesige Gewohnheiten wirft.
Das ist anfangs recht witzig und wenn gesellschaftskritische Themen wie Fremdenhass angesprochen werden, bleibt mir als Leser durchaus der eine oder andere Lacher im Halse stecken. Schön fand ich auch die Kapitel, die sich um das Schriftsteller-Dasein drehen und wie wenig Einfluss der Urheber auf die Wirkung seiner Werke hat.
Doch leider fehlt es den Geschichten an Länge/Details und vor allem an Variation. Die Dramen des Alltags folgen alle einem ähnlichen Schema, und sind oft nicht mehr als die Ängste der Mittelschicht - und damit langweilig und in ihrer ständigen Wiederholung des Schockmoments auch ermüdend.
Matthias Jügler - Die Verlassenen
Der Erzähler Johannes wächst in Halle in der DDR auf und verliert in jungen Jahren seine Mutter. Ein paar Jahre nach der Wende geht der Vater auf eine Dienstreise und kommt nie wieder, so dass Johannes den Rest seiner Schulzeit bei seiner Großmutter verbringt. Doch der Verlust beider Elternteile prägt nicht nur seinen Charakter stark, sondern hinterlässt auch viele Fragezeichen. Als Johannes viele Jahre später ein Brief aus Norwegen in die Hände fällt, adressiert an den Vater, macht er sich auf die Spurensuche in die Biografien seiner Eltern.
In Die Verlassenen wagt sich Matthias Jügler an die literarische Aufarbeitung einer Stasi-Operation, die weit in die Zukunft der (unfreiwillig) beteiligten Personen hinein wirkt; über das Bestehen der DDR und seines Ministeriums für Staatssicherheit hinaus. Basis war dabei eine reale Akte, aus welcher der Autor kurz vor Ende des Buches Auszüge ausdruckt, die einem in ihrer bürokratisierten Beschreibung der Zerstörung einer Familie den Atem nehmen.
Von der Anwerbung der Inoffiziellen Mitarbeiter aus dem nächsten Bekanntenkreis über die Durchführung der verdeckten Operation mit dem Ziel, störende Stimmen einzuschüchtern - in Kurzform präsentieren die Auszüge die Wirkungsweise der Stasi und mit welchen unmenschlichen Methoden der Unrechtsstaat versuchte, unliebsame Menschen und Meinungen zu unterdrücken.
Um die Folgen für den Leser spürbar zu machen, wählt Pflügler die Innenperspektive des Sohnes, der teils in wilden zeitlichen Sprüngen durch die eigenen Erinnerungen pflügt und mit dem Wissen um die Stasi-Akte seiner Eltern die Puzzlestücke seines Lebens neu zusammensetzt.
Wenn es sich nicht um eine reale Geschichte handeln würde, hätte ich hinterfragt, dass nie jemand mit dem Sohn geredet hat. Klar - wie gefährlich es war, die eigenen Kinder einzubeziehen, die in der Schule von systemtreuen Lehrern ausgefragt wurden, das weiß ich von Erzählungen meiner eigenen Eltern. Und welche Narben der Tod von Ehefrau oder Sohn hinterlassen, das mag und will ich gar nicht wissen.
Aber zumindest wenn es um die Betreuung des Waisen geht oder später um das Erbe der Großmutter, dann hätten unsere aktuellen Institutionen einiges aufgeklärt, auch ohne die mögliche Einsicht in die Stasi-Unterlagen. Ich unterstelle also bewusste Auslassungen zur Verdichtung der Narration. Gleichzeitig zeigt das Buch aber auch, dass Informationen nicht nur von Vorteil sind: Das unfreiwillige Lesen seiner Akte aus dem Brief aus Norwegen hat vermutlich den Vater in den Freitod getrieben und so maßgeblich die Kindheit des Protagonisten geprägt, was ihn am Ende stellvertretend für den Autoren und uns Leser vor die Frage stellt, ob er diese Serie von Schuld und Sühne immer weitertreiben will.
Stark ist der Roman immer dann, wenn er die von einer Generation an die nächste weitergegebenen Mechanismen spiegelt: Die Lüge mit der Dienstreise, die vorsichtige da ggf gefährliche Kommunikation, der Drang nach der Freiheit mit dem Symbol des eigenen Gartens (das ironischerweise sowohl DDR auch BRD bürokratisieren).
Schwächer fand ich die Einbettung meiner Heimatstadt Halle als Handlungsort, obwohl das ein Grund für mich war, das Buch zu lesen. Es ist zwar nett, dass ich die genannten Straßen und Orte kenne, aber sie tragen nichts substantielles zum Inhalt bei.
Haruki Murakami - Kafka am Strand
Es gibt nicht viele Autoren, von denen ich so viel gelesen habe wie von Haruki Murakami. Als mir dann mitten im Urlaub die Bücher ausgingen, wurde es Zeit, einen Klassiker nachzuholen, den ich schon verschenkt habe und von dem ich nur Gutes gehört habe.
Das Buch dreht sich um einen 15jährigen Jungen, der von zu Hause ausreißt, da es dort nur noch einen Vater gibt, der sich nicht um ihn kümmert und ihm zudem eine an Ödipus angelehnte Prophezeiung hinterlassen hat, dass er mit seiner Schwester und seiner Mutter schlafen und den Vater umbringen wird.
Um auf seiner Flucht nicht sofort gefunden zu werden, gibt sich der Junge den Namen Kafka (nach seinem Lieblingsautoren). Getrieben wird er dabei von einer inneren Stimme, der Krähe (etwas falsch als Übersetzung von Kafka aus dem Tschechischen bezeichnet), die ihn immer wieder zuredet, aktiv aufzutreten und wichtige Schritte zu tun.
So findet er Zuflucht in einer Privatbibliothek in Takamatsu, die von der Leiterin Saeki und ihrem Assistenten Oshima betrieben wird. Letzterer ermöglicht Kafka eine zeitweilige Zuflucht in einer abgeschiedenen Berghütte nahe eines mystischen Waldes. Denn inzwischen wird Kafka von der Polizei gesucht, da sein Vater umgebracht wurde - allerdings von den Händen Nakatas, eines alten Mannes, der nach einem Vorfall in seiner Kindheit die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben verloren hat, dafür aber mit Katzen reden kann. Nun ist er - ebenfalls getrieben von einer seltsamen Anziehung - zusammen mit dem Fernfahrer Hoshino nach Takamatsu unterwegs, wo sich alle Handlungsstränge überschneiden.
In Bibliotheken kann alles passieren, das weiß man als fleißiger Murakami-Leser. Kafka am Strand macht da keine Ausnahme; von Geistern über halbe Schatten und seltsame Zeitschleifen bis hin zu von Steinen verschlossenen Zugängen zu einer Welt ohne Bibliotheken packt der Autor ein Sammelsurium seiner bekannten Topen in das Buch.
Dabei ist das Hauptthema das Coming-of-Age von Kafka. Er ist mitten in seiner Pubertät und voller Unsicherheiten - in Bezug auf sich, seine Sexualität, seine Familie. Die verschlungenen Wege seiner Flucht stellen ihn immer wieder vor Entscheidungen, offenbaren aber auch mögliche Wege: Ob er mit einem Mädchen schlafen soll, das seine Schwester sein könnte; ob er eine Beziehung zu der Frau eingeht, die vielleicht seine Mutter ist; ob er seine Vergangenheit hinter sich lassen kann und was der Preis für Verdrängung ist.
Der zweite Handlungsstrang um Nakata setzt all den Seltsamkeiten noch die Krone auf: Beginnend mit einem Akte-X-Moment, der die geistigen Möglichkeiten Nakatas beschränkt, lässt Murakami es später Fische und Blutegel regnen und mit Johnny Walker und Colonel Sanders (der Gründer von KFC) noch verrücktere Charaktere auftreten. Zeitweilig fand ich die Nakata-Kapitel aufgrund ihrer Skurilität viel interessanter als die Haupthandlung.
Doch während ich einen Ansatz fand, Kafkas Reise für mich zu entschlüsseln, gelang mir das bei Nakata nicht. Viele Elemente scheinen mir reiner Selbstzweck zu sein, der Einfluss auf die Haupthandlung beschränkt sich auf drei Ereignisse, und einige Aspekte wie das Sprechen mit Katzen, das dann verloren geht, werden zu keinem mich zufriedenstellenden Ende gebracht - vom Ende Nakatas ganz zu schweigen.
So bleibe ich mit einigen Fragezeichen zurück. Das Füllhorn an Ideen, das Murakami über seinen Roman ausgeschüttet hat, macht ihn sehr spannend und anregend zu lesen. Aber nicht alle Puzzleteile wollen zusammenpassen, so dass er für mich hinter 1Q84 und Hardboiled wonderland zurückbleibt.